Im Zentrum der diesjährigen Herbsttagung der Sektion Medienpädagogik der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE) standen unter dem Titel “Medienbildung im Spannungsfeld medienpädagogischer Leitbegriffe” Kernkategorien der Medienpädagogik zur Diskussion. Die enormen Mediendynamiken der letzten Jahre haben in der Medienpädagogik naturgemäß vielfache Entwicklungen und Differenzierungen ausgelöst; so beispielsweise die folgenden, um die es (nach meiner Wahrnehmung) auf der Tagung insbesondere ging:
- Der Titel “Medienbildung” hat im letzten Jahrzehnt eine erhebliche Verbreitung gefunden. Sowohl auf akademischer Seite als auch für die Praxis ist dabei das (mögliche) Verhältnis dieses Begriffs zu angestammten Konzepten wie dem der Medienkompetenz eher unklar. Ist er bloß ein modisches Label? Umfasst er alle anderen Kategorien? Kann/soll er “Medienkompetenz” ersetzen oder ihr eine normative Richtung vorgeben? Ist Medienbildung ein (Teil-) Aspekt von Medienerziehung? (Meine persönliche Antwort auf diese Fragen: “Nein”; ausführlichere Begründung in meinem Beitrag zur Tagung ...)
- Medien, zumal neue Medien, sind hochgradig globale Phänomene, die in verschiedenen Ländern zumindest teilweise ähnliche Probleme und Potenziale mit sich bringen. Die sehr umfangreiche und dynamische internationale (v.a. englischsprachige) Diskussion kreist um andere Kernbegriffe (wie “literacy” und “education” in unterschiedlichsten medienbezogenen Versionen). Diese lassen sich nicht einfach mit unseren Konzepten vergleichen – mit Konzepten sind aber größere kulturelle und soziale Rahmungen versehen, Fragen der Einstellung gegenüber einem Feld, auch der Werte. Insofern die deutschsprachige Medienpädagogik sich nicht isolieren kann, stellt sich also die Frage nach den Gemeinsamkeiten und Differenzen dieser Konzepte und nach “unserem” Umgang damit. “Beziehungsstatus: It’s complicated”.
- Der Bereich des Lehrens und Lernens mit Medien, traditionell als “Mediendidaktik” bezeichnet, hat ebenfalls (Stichwort eLearning und Nachfolgekonzepte) einen großen Bedeutungszuwachs erfahren. Hier stellt sich die Frage, ob sich die Mediendidaktik eigentlich zur Medienpädagogik zählt, bzw. ob die Medienpädagogik die Mediendidaktik inkludiert oder (doch nur) integriert. Umfasst also die Medienpädagogik die zwei großen Perspektiven des Lernens über Medien (Medienerziehung) und des Lernens mit Medien (über bliebige, auch nichtmediale Lerngegenstände und -felder? (Aus der von mir vertretenen Medienbildungsperspektive ist die Trennung ohnehin nur begrenzt plausibel).
Allen Interessierten, die nicht bei der Tagung dabei sein konnten, seien die Positionspapiere unbedingt empfohlen, die auf der Tagungs-Website heruntergeladen werden können (sehr löblich, hoffentlich bleibt das eine Weile online!).
Nachtrag (7.9.2011): Wie Beat Döbli treffenderweise formuliert: Man hat inzwischen die online verfügbaren Texte depubliziert und sie auf totes Holz gedruckt, das man für 18 € im kopaed-Verlag erwerben kann. Da Verlage keinen Zugriff auf Preprints haben, bleibt mein Text als Preprint weiterhin online verfügbar (s. Publikationen 2011).
Weitere Blogbeiträge zur Tagung:
Nachfolgend einige Betrachtungen zu (für mich besonders wichtigen) Einsichten der Tagung. Es gab über das nachfolgend Erwähnte hinaus noch einige weitere Aspekte – sehr spannende Diskussionen zum Literacy-Begriff, zur Verortung der Mediendidaktik, zum Verständnis von Medienerziehung – auf die ich hier nur sehr verkürzt eingehen kann, die aber sicher in anderen Blogs aufgegriffen werden.
Medienbildung (“vs.” Medienkompetenz)
Es gab eine (mich überraschende) ziemlich verbreitete Einigkeit darüber, dass “Bildung” als Prozess verstanden werden solle – also nicht als statisches Lernziel oder Lernergebnis (im Sinne von “Gebildetheit”, Qualifikation, Kompetenz). Über das Verhältnis von (Medien-) Bildung, Erziehung, Kompetenz gehen die Ansichten im Detail naturgemäß auseinander: Wissenschaft ist nun mal eine Diskurs- und keine Konsensveranstaltung (was medienpädagogische PraktikerInnen immer wieder irritiert, da ihnen klare Definitionen und Abgrenzungen verständlicher Weise lieber wären; s.u.). Damit dürfte meines Erachtens relativ klar sein, dass die aktuelle Debatte um “Medienbildung vs. Medienkompetenz” aufgrund der unterschiedlichen Strukturiertheit diese beiden Perspektiven:
- einmal an Prozessen orientiert – also an zeitlichen Verlaufsformen – und stärker auf Medienstrukturen fokussiert,
- das andere Mal an Niveaus orientiert – also am bestehenden Status (von Fähigkeiten, Fertigkeiten, Dispositionen) zu einem bestimmten Zeitpunkt (z.B. Medienkompetenz als Lernergebnis) – und stärker auf das handelnde Subjekt fokussiert,
zumindest ein Stück weit Klärung gefunden hat. Dass es in der Perspektive der Medienbildung stärker um Konstitutionsprozesse von Subjektivität (Subjektivation) geht, und dass es dabei stärker um “Medialität” (Strukturaspekte) als um “Medien” (lebensweltlich gegenständlich) geht, schien auch (nach meiner Wahrnehmung) eine akzeptable Position zu sein (s. etwa auch die Paper von Manuela Pietraß und Isabel Zorn). Damit werden auch Abgrenzungen klarer: wenn in Kompetenzmodellen (Bsp. Schorb) davon ausgegangen wird, dass Subjekte Medien “aktiv handelnd und aneignend” nutzen, so lässt sich das in (Konstitutions-) Begriffen wie “Subjektivation” und “Medialität” gar nicht abbilden – beispielsweise kann man “Medialität” nicht “nutzen”; sie ist nicht “zuhanden” wie ein Ding.
Praxisrelevanz dieser Theoriediskussion [ja, die gibt es!]
MedienpädagogInnen außerhalb der akademischen Welt haben es – zugegebenermaßen – nicht leicht, die Relevanz der Auseinandersetzungen um solche Kernbegriffe einzuschätzen. Nicht nur herrscht grundsätzlich eine “produktive Differenz” um Leitbegriffe – und diese ist auch nötig. Neue “Label” wie das der “Medienbildung” sind zudem, bis eine fundierte Klärung erfolgt, relativ lange Zeit relativ unbestimmt. Was etwa unter dem Titel “Medienbildung” zu finden ist, hat in seinen Extremen wenig miteinander gemeinsam. Dasselbe gilt aber auch für die sehr unterschiedlichen Auslegungen von “Medienkompetenz”. Auch daher also die “Praxisrelevanz” socher Diskussionen für PraktikerInnen oft nicht erkennbar (s. z.B. die Beiträge im merz-Diskussionsforum).
Der Praxisbezug der Theoriedebatten wurde auf der Tagung von vielen Diskutanten hervorgehoben. Differenz besteht (traditionell) in der Frage, ob Praxisbezüge von medienpädagogischer Theoriearbeit immer unmittelbar erkennbar sein müssten. Im Kontext der Medienbildung/Medienkompetenz-Diskussion wurde jedoch durchaus deutlich, dass aus den unterschiedlichen theoretischen Perspektiven durchaus unterschiedliche pädagogische Herangehensweisen resultieren, wie etwa Dieter Spanhel hervorhob: einerseits die “aktive Medienarbeit” (mit Fokus auf das “aktiv handelnde Subjekt”); andererseits Analysen und daraus resultierende Gestaltung medialer Bildungsarchitekturen (Fokus auf Medienstrukturen). Es ist aus meiner Sicht evident, dass das eine das andere nicht ersetzen, also nicht ablösen kann, sondern dass hier neue – neuartig strukturierte – medienpädagogische Aufgabenfelder entstanden sind (und entsprechend neue Felder medienpädagogischer Forschung).
Medienpädagogische Kernbegriffe – ein (produktives) Spannungsfeld
Es wurde auf der Tagung mehrfach die Ansicht geäußert, dass die beiden Konzepte “Medienbildung” und “Medienkompetenz” im Sinne eines Spannungsverhältnisses stärker aufeinander (auch kritisch) Bezug nehmen sollten. Insbesondere, so betonten Vertreter des Medienkompetenz-Konzepts noch einmal, sei ihr Verständnis von Medienkompetenz als grundlegende, entfaltbare Fähigkeit des Menschen (im Anschluss an Chomsky, Habermas und Baacke) dem Bildungsgedanken vom Gestus her erheblich näher als solche Kompetenzbegriffe, die primär auf eine instrumentalistische Mediennutzung abzielten, was eine solche Bezugnahme nahelege.
Aus Perspektive der Medienbildung kann diese – sicher wichtige und sinnvolle – Forderung m.E. allerdings nicht für diese beiden Konzepte im Besonderen gelten, sondern muss für das ganze Ensemble der medienpädagogischen Kernkategorien gefordert werden, da Medienbildung und Medienkompetenz strukturell und funktional nicht “enger verwandt” sind als Medienbildung und Medienerziehung oder Mediensozialisation (von der im übrigen auf der Tagung nach meiner Erinnerung kaum etwas zu vernehmen war).
Damit noch – in aller Kürze, ohne auf alle Beiträge eingehen zu können – zur Diskussion anderer zentraler Begriffe:
Media Literacy
Wie angedeutet, ein ausgesprochen kompliziertes Feld, insofern, wie die sehr informativen Beiträge detailliert aufzeigten, ja auch die englischen Begriffe divergente Felder darstellen. Eine Diskussion über die (mangelnde) Anerkennung unserer Begriffe seitens der US-Kollegen, über die Frage der Besinnung auf die reichhaltig vorhandenen eigenen Theorietraditionen ist da selbstredend unausweichlich. Wer aber international gehört werden will – was aufgrund der extrem harten Aufmerksamkeitsökonmie im angelsächsischen Wissenschaftsdiskurs ohnehin ausgesprochen schwierig ist – muss international publizieren – und gerät unmittelbar in das Problem, die eigenen Begriffe (Bildung, Erziehung, auch Kompetenz) nicht adäquat übersetzen zu können. Also eine paradoxe Lage. Sehr produktiv in diesem Zusammenhang ist die Idee (ich glaube, sie kam von Isabel Zorn), dass die deutschsprachige Medienpädagogik eine zentrale Auflistung ihrer englischsprachigen Publikationen erstellt, so etwa in Form eines Wikis. Damit also könnte wir alle uns viel leichter – oder zumindest: etwas leichter – auf unsere eigenen Konzepte beziehen und v.a. auch nach außen hin besser wahrgenommen werden – Open Access sollte dabei selbstverständlich sein, soweit rechtemäßig realisierbar.
Mediendidaktik
Eine in dieser Deutlichkeit doch überraschende Affinität der Mediendidaktik zur Medienbildung bzw. -erziehung zeichnete sich auf der Tagung ab, als Dieter Spanhel als Praxis der Medienbildung die Gestaltung von Bildungsräumen hervorhob (in Abgrenzung zur medienvermittelnden pädagogischen Praxis des Kompetenz-Modells), und Michael Kerres in seinem Vortrag auf ganz ähnliche Weise die Gestaltung als eine Zielbestimmung seiner Vorstellung von Mediendidaktik nannte (hier aber nicht beschränkt auf mediale Lerngegenstände). In diesem Sinne plädiert Kerres m.E. sehr überzeugend für einen engen Zusammenhang von Medienbildung bzw. -erziehung und Mediendidaktik unter dem “Dach” der Medienpädagogik. ((Zum Hintergrund dieser Diskussion: es geht um zwei Perspektiven: einmal Medien als Lernbereich oder -gegenstand wie in der Medienerziehung; das andere Mal um Medien als Mittel zur didaktischen Gestaltung von Lernprozessen, die sich auf beliebige andere Lernfelder richten können. Wenn mit Medien über (dieselben) Medien gelernt wird (also z.B. Social Web-Lernen durch didaktisierte Social Web-Nutzung), überschneiden sich die beiden Bereiche. Dies kommt durchaus vor, ist aber eben nicht notwendig der Fall.))
Aus Perspektive der Medienbildung ist das sehr plausibel: es geht ihr – in der Orientierung nicht auf Lehren und Lernen, sondern auf Bildungsprozesse – ja weniger um so etwas wie “Medien als Gegenstand von Bildung” (denn Bildung in meinem Verständnis hat keinen Gegenstand in diesem Sinne), sondern Bildung in medialen Kontexten und Welten. Ich verstehe Medienbildung also in der Überschneidung dieser beiden Perspektiven (zugleich von Medienerziehung und Mediendidaktik dadurch abgegrenzt, dass es eben nicht um die pädagogisch-didaktisierte Organisation von definierten Lernenfeldern und -gegenständen geht – wobei Berührungspunkte durchaus nicht ausgeschlossen sind).
Dominik Petko hingegen geht sehr deutlich von einer bestehenden Trennung von Medienpädagogik und Mediendidaktik aus. Die Mediendidaktik sei ein großes, internationales, autarkes Feld, das, so der Unterton, keineswegs darauf angewiesen sei, zur Medienpädagogik zu gehören; schon gar nicht als untergeordneter Teil derselben. Petko stellte aber mögliche Konvergenzen von Medienpädagogik und Mediendidaktik in Aussicht. Voraussetzung dazu sei, dass die Medienpädagogik mehr medienpädagogische Praxisforschung durchzuführe, und dies gelinge in brauchbarer Weise mit experimentellen, hypothesentestenden Verfahren aus der Psychologie.
Petko macht damit in durchaus verdienstvoller Weise eine Abgrenzungslinie sehr deutlich, indem er offenbar qualitativ-rekonstruktiver Empirie, wie sie in der Erziehungswissenschaft anerkannt und gut etabliert ist, (zumindest für dieses Feld) die Brauchbarkeit abschreibt (s. sein Paper, S. 6). Während Petkos Forderung nach fundierter medienpädagogischer Praxisforschung eine ausgesprochen richtige und wertvolle ist, lässt doch sein – von mir jedenfalls so wahrgenommener – Abgrenzungsgestus die Frage stellen, ob eine “Konvergenz” an dieses sicherlich wichtige, autarke, globalisierte Feld der technologiegestützten Organisation von Lernsettings überhaupt ein lohnenswertes Unterfangen wäre. Wie eine solche “Konvergenz” aus dieser Perspektive theoretisch begründbar wäre, blieb ebenfalls offen, soweit ich es verstanden habe.
Medienerziehung
Recht kontrovers wurde der Begriff der Medienerziehung diskutiert. Matthias Rath plädierte dafür, der Medienerziehung eine prominente Bedeutung zuzuweisen; auch Dieter Spanhel sieht Medienerziehung als einen Begriff, der die anderen zusammenhalten kann. Andere sind da aus unterschiedlichen Gründen eher skeptisch; so gibt es etwa Vorbehalte gegen normative Erziehungskonzepte in der Tradition der Medienkompetenz-Linie; ich persönlich sehe aus begriffslogischen Gründen nicht, dass sich Bildung unter Erziehung subsumieren ließe (oder umgekehrt) – oder anders gesagt, ein solcher Begriffszuschnitt scheint mir nicht der ertragreichste zu sein, da er aus meiner Sicht vieles ausblendet.
Fazit: eine offene, faire und ertragreiche Diskussion
In jedem Fall aber ist – und dies hat sich auf dieser Tagung fortwährend erwiesen – die Ausdifferenzierung der Begrifflichkeiten, darüber hinaus aber auch die Anerkennung der innerkategorialen Differenzen – Voraussetzung ihrer gegenseitigen Bezugnahme und Kritik. Je klarer die unterschiedliche strukturelle Lagerung verschiedener Theorieperspektiven innerhalb eines Feldes ist, desto weniger ist die begriffliche Abgrenzung auf (der Diskussionskultur abträgliche) Komplexitätsreduktionen angewiesen.
Wesentlich hierbei ist – was meine positive Wahrnehmung der deutschsprachigen Medienpädagogik wieder einmal bestätigt – das sehr offene und faire, kollegiale Diskussionsklima, das auch diese (übrigens von den Zürichern hervorragend organisierte) Tagung, in der es ja sozusagen “ans Eingemachte” ging, wieder sehr deutlich geprägt hat. Es gibt offenkundig doch bei sehr vielen Vertretern über theoretische Perspektivendifferenzen – und auch über involvierte Disziplingrenzen – hinweg einen nicht geringen Anteil gemeinsamen Grundverständnisses über Problemlagen und Potenziale im medialen Feld, und entsprechend fruchtbar und sinnvoll gestaltet sich der Austausch auf verschiedenen Ebenen.