BMBF-gefördertes Projekt “Postdigitale Kulturelle Jugendwelten” startet

Der Lehrstuhl für Pädagogik mit dem Schwerpunkt Kultur, ästhetische Bildung und Erziehung wird in den nächsten drei Jahren in Zusammenarbeit mit dem Institut für Bildung und Kultur (IBK) und der Akademie der Kulturellen Bildung Remscheid das BMBF-geförderte Verbundvorhaben Postdigitale kulturelle Jugendwelten – Entwicklung neuer Methodeninstrumente zur Weiterentwicklung der Forschung zur Kulturellen Bildung in der digitalen und postdigitalen Welt durchführen.

Das Vorhaben möchte erstmals ausführlich prüfen, wie sich der digitale Medienwandel auf die aktuelle ästhetische und künstlerische Praktiken junger Menschen ausgewirkt hat. Es verschränkt hierzu qualitative und quantitative Methoden. Neben Experteninterviews und einem BarCamp, das erstmals als Erhebungsinstrument eingesetzt wird, ist eine Befragung in Form von 2000 face-to-face-Interviews geplant. Aus dem Projekt sollen zudem zwei Dissertationen hervorgehen.

Hier ein Auszug aus der Zielbeschreibung des Projekts:

Die Nutzung Neuer Medien hat sich in den letzten Jahren rasant gewandelt. Während „traditionelle“ elektronische Medien wie das Fernsehen an Bedeutung verlieren, sind digitale Medien aus dem Alltag junger Menschen nicht mehr wegzudenken. Die heutigen Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen sind zunehmend durchzogen von digitalen Netzwerken, mobilen Gadgets, Apps und Algorithmen; sie werden wo nicht bereits heute, so in naher Zukunft wesentlich auf diesen basieren. Dieser Zustand, der kulturelle Gefüge und ästhetische und künstlerische Praktiken tiefgreifend und in vielerlei Hinsicht berührt, wird im aktuellen Diskurs als „postdigitaler Zustand“ (Jörissen 2016a) bezeichnet.

Unter postdigitalen Bedingungen verändern sich maßgeblich die Bedingungen kultureller Bildung und Teilhabe. Wenn man heuristischer Absicht das Phänomen der Digitalisierung bzw. des Digitalen in die vier Phänomenbereiche a) Code/Software, b) Daten, c) Netzwerke und d) Hardware/materielle Interfaces einteilt (vgl. Jörissen 2016b), so wird die Bandbreite der Transformationsdynamiken deutlich. So haben digitale soziale Netzwerkplattformen wie Instagram oder Snapchat ästhetische und künstlerische Praktiken erheblich transformiert, wofür maßgeblich nicht nur die Netzwerkfunktionen, sondern bildtransformative Algorithmen im Instantbild-Retrostil (daher der Name „Instagram“) bzw. ein neues, zeitabhängiges Paradigma kultureller Objekte (Snapchat) mitveranstwortlich sind. Ephemere und zugleich retro-reduktive ästhetische Formen wie diese sind auch auf Spielplattformen wie Minecraft zu finden, auf denen eine erhebliche Anzahl von Kindern und Jugendlichen enorm aufwändige und kreative architektonische und raumbezogene Gestaltungen vornimmt, die auf den Plattformen nur eine begrenzte Zeit existieren. In ganz anderen Logiken bewegen sich teilweise softwarebasierte künstlerische Praktiken, wie etwa in Form von Kreativ-Apps, die mittels hochkomplexer ästhetischer Algorithmen eine neue „assisted creativity“ im visuellen und musikbezogenen Bereich hervorbringen. Hierzu zählen jedoch auch neue interaktive und präsentische musikalische und visuelle Kompositionsformate („live coding“), und hierzu zählt auch die Frage nach der Bedeutung der digitalen De- und Rematerialisierung künstlerischer Materialitäten, wie sie etwa in mittlerweile zur Perfektion entwickelten, hochresponsiven und zugleich hochtransformativen virtuellen (klassischen) Instrumenten (z.B. Pianoteq) vorliegen, die einerseits neue Materialitäten und (z.B. polychromatische) Interfaces hervorbringen (Roli Seaboard), andererseits sich in die entmaterialisierten digitalen Netzwerklogiken einfügen (Soundcloud, Laptop Orchestra, virtuelle Chöre als Mainstreamphänomene). Schließlich wird, nicht nur im Bereich des live coding, im digitalen Subkulturen auch das Programmieren teilweise als dezidiert künstlerische Tätigkeit verstanden. Die neue Disziplin der Software und Code Studies hebt die Kulturalität von Software und die Expressivität von Software-Ausdruck explizit hervor (z.B. Wardrip-Fruin 2009); im verbreiteten Phänomen der Indiegame-Programmierung treten sowohl künstlerischer Geltungsanspruch (wie auch die damit verbundenen künstlerisch-prekären Existenzweisen) deutlich hervor – nicht erst seit Bill Violas Adelung des Computerspiels als Kunstform („The Night Journey“, 2010).

In welchen Formen die massenhaft sichtbaren und auch die weniger offensichtlichen digitalen Transformationen ästhetischer Praktiken für die gegenwärtige Jugendkultur von Bedeutung sind, von wem sie wie und warum praktiziert werden, für wen sie interessant und erreichbar sind, welche genuin neuen oder möglicherweise auch an tradierte Formen anschließenden ästhetischen Erfahrungen mit ihnen einhergehen, ist weitestgehend unbekannt. Das Wissen um diese Transformationen ist jedoch sowohl für die Forschung zur Kulturellen Bildung als auch für die kulturpädagogischen Praxisfelder, und zumal für eine zukunftsweisende bildungspolitische Steuerung, unabdingbar.

Vor diesem Hintergrund stellen sich wissenschaftlich, aber auch für die pädagogische Praxis und für evidenzbasierte bildungspolitische Strategieentwicklung im Bereich der Kulturellen Bildung maßgebliche Fragen wie die folgenden:

–     Wie verändern sich künstlerisch-kreative Aktivitäten junger Menschen durch digitale Medien? Welche Bedeutung hat die Transformation von Raum und Zeit unter digitalen Bedingungen (vgl. Bukow/Fromme/Jörissen 2012; Westphal/Jörissen 2013) für ästhetisch-künstlerische Praktiken und Erfahrungen?

–     Welche „virealen“ künstlerisch-kreativen Möglichkeiten nutzen junge Leute mit und in digitalen Medien? Wie sieht es hier mit Netzwerkplattformen als Anreiz und Anerkennungsräume kreativer Artikulationen (Youtube, Soundcloud, Facebook etc.), als jugendkulturelle Plattformen kooperativer Kreativität (z.B. Fanart) oder als Informations- und Lernressource für ästhetische/popkulturelle Diskurse und künstlerische Ausdrucksformen (inkl: Skype-Unterricht und andere neuen nonformale Vermittlungsformen) aus? Welche Rolle spielen Smart devices und Kreativapps als Anreiz, Ermöglichung und Unterstützung (aber auch Dematerialisierung und Simulation) ästhetischer Artikulation oder virtuelle Räume, hier Raumsimulationen, als neue primäre Umgebung für ästhetische Praktiken, wie z.B. paradigmatisch das Massenphänomen Minecraft?

–     Welche Bedeutung hat das veränderte Medienverhalten Jüngerer auf die Kulturelle Bildung?

–     Wie verändern sich informelle und non-formale Vermittlungsformen durch digitale Netzwerke, mit welchen Effekten?

–    Wie müssen künftige kulturelle Bildungskonzepte gestaltet werden, um den veränderten medialen Lebensgewohnheiten der neuen Generationen gerecht zu werden?


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